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Das Mittelalter 1
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Die Musik des Mittelalters war eine Gesangs-Musik. So scheint es jedenfalls - wohl vorwiegend als Resultat der Quellenlage. Überliefert sind aus der Zeit um die erste Jahrhundertwende vorwiegend kirchliche Gesänge - weil das Privileg des Schreibens in diesem Zeitalter dem Klerus vorbehalten gewesen ist. Derart überlieferte Melodien des Mittelalters sind also Gesänge, sind geistlichen Inhalts und in der Form zunächst einstimmig. Auch sind sie a capella-Musik, Instrumente waren im kirchlichen Raum nicht zugelassen - die Verwendung der Orgel im Kontext der Messe wird erstmals 951 aus Winchester überliefert.
Dass eine Geschichte der Musik, die sich der katholischen Kirchenmusik bewusst enthalten will, genau mit dieser beginnt, mag inkonsequent scheinen, ist aber unumgänglich. Tatsächlich zeigt sich das Konzept mittelalterlicher Musik nirgends besser als in der Kirchenmusik, der jedoch in unserer Sammlung stets weltliche Musik, die thematisch vorwiegend um Liebe und Geselligkeit kreist, beigestellt wird. Es war gerade die katholische Kirche - wie wir später zeigen werden - die die besten Musiker im 14. Jahrhundert dazu nötigte statt geistlicher Musik erotische Lieder zu schreiben - wir dürfen hierfür dankbar sein.
Gregor I. und die Kirchenmusik
Doch zunächst zu den Anfängen: Die früheste überlieferte Musik stammt aus dem Ritual der katholischen Messe, der liturgischen Monodie, die "gregorianischer Gesang" genannt wird. Unter der Herrschaft des römischen Benedektinermönchs Gregor I. (Papst von 590-604) sollen alle in den westeuropäischen Kirchen gebräuchlichen Gesänge gesammelt worden sein. Zumindest postuliert dies eine erst im 9. Jahrhundert belegbare Geschichtsschreibung, die den katholischen Kolonisator Englands mit dem Kirchengesang in Verbindung brachte. Tatsächlich gibt es keine Belege dafür, dass Gregor sich näher mit Musik beschäftigt hätte. Er formulierte die Lehre der
Todsünden "Hochmut, Neid, Zorn, (damals noch:) Traurigkeit, Habgier, Völlerei und Wollust"
(um) und war ein eher wenig intellektueller Feind der antiken Philosophie. Das MGG formuliert: "Die neue Primitivität und Lebensnähe freilich musste mit einem >Bildungs-Sturz< bezahlt werden. Mit Gregor ist die alte Welt zu Grabe gegangen und das Mittelalter, in dem Mönchstum und Abtötung zum Leit- und Richtmotiv des Lebens werden, heraufgezogen…Sollte wirklich, was aber mehr als unwahrscheinlich ist, unter Gregor ein liturgische Melodien-Repertoire entstanden sein, dann könnte es sich nur um das alt-römische handeln, keinesfalls um das ihm zweieinhalb Jh. später und bis heute zugesprochene, aus dem alt-römischen entwickelte neu-römischen Repertoire" (Bd 5, S. 774 ff). Offenbar war es zum Ende des Jahrtausends aber wichtig, die neue Messordnung durch einen Namen von unantastbarer Autorität zu legalisieren.
Bis zum 9. Jahrhundert sind mehr als 3000 Melodien, jede mit eigener Funktion im Rahmen der Liturgie, versammelt worden. Der hierbei vertretene Stil wird als cantus planus bezeichnet, ein ebener, gleichmäßig dahin gehender Stil, der dem cantus mensuratus, einem eher rhythmischen, "taktierten" liedhaften Gesang gegen über gestellt wurde. Resultat dieser Epoche war eine Neuordnung der Liturgie, die von Karl dem Großen politisch realisiert worden ist. Den Annahmen von Chailley zufolge verdrängte diese getragene, nach "innen gekehrte" Monodie zuvor existente ekstatische, tänzerische Musik des Gottesdienstes, die von möglicherweise virtuosen Sängern unter Verwendung von "lieblichen Figuren und Tremoli mit rückprallenden Tönen und Verflüssigung der Halbvokale, kurz von tausend Fiorituren, welche heute die Apostel der Überlieferung empören würden" (n. Goldron, 1965, S. 27) gekennzeichnet gewesen sein könnten. Solche zügellosen Vokalisen seien z. B. für die jemenitischen Juden und die Byzantiner angenommen worden. Selbst Paulus habe in einem Korintherbrief (gemeint ist wohl
1 Kor 14, 1-40) gebilligt, dass die Gläubigen beim gemeinsamen Gesang sich "in Verzückung erheben, um - außer sich - zu improvisieren". Noch aus dem 11. Jahrhundert finden sich Illustrationen zu Alleluia-Neumen, auf denen eine Frau ganz offensichtlich tanzt. Notenüberlieferungen solch tanzend-extatischer Melodien gibt es aber nicht, so dass diese Hypothesen in der Bereicht des Mythos verwiesen werden müssen.
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Mit dem Gregor zugeschriebenen, in Wirklichkeit Jahrhunderte andauernden Prozess, wurde jedenfalls mit geglicher Improvisation Schluss gemacht und eine einheitliche Liturgie im typischen Stil der Innerlichkeit institutionalisiert.
Die normierte Abfolge der Liturgie ist historisch gewachsen, so fand das textlich sperrige Credo erst zu Beginn des 11. Jahrhunderts auf Betreiben Kaiser Heinrichs II. (nach Gülke, 1998, S 57) den Eingang in die Messe.
Das Grundgerüst des Messenaufbaus stammt jedoch von Benedikt von Nursia (ca 480-543), der es für seinen Mönchsorden als "Officium" - geregelte Gottesdienste im Tages- und Jahresablauf - generiert hatte.
Aufbau der Messe (PDF)
Zwei Arten des Gesangs werden unterschieden: der "syllabische", bei welchem alle Silben auf derselben Note deklamiert werden (für die Lesung der Episteln, Evangelien, Psalme und Gebete) und der "melodische" zum Antiphon, Hymnus und für die Mess-Gesänge.
Zum Siegeszug der Gregorianik trug vor allem die Einführung der Neumenschrift ab dem 9. Jahrhundert, deren Ursprung im Dunkeln liegt, bei. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und meint "Wink".
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Das System verzeichnet ansteigende Striche (virga) und fallende Striche bzw. Punkte (puncta), die die Stimmbewegungen, nicht aber Tonhöhe oder Tonabstände angeben.
Kirchengesang um 900 ist Wechselgesang (Responsorium), wobei die Tradition des Gesanges aus der jüdischen Synagoge übernommen worden ist. Psalmen wurden von einem Solorezitator gesungen (Psalmodie), die Gemeinde kommentierte die Verse durch Wiederholungen des Eingangsgesangs - in unserem Beispiel (Nr. 1) das Graduale "Regem cui…" ("Den König allen Lebens, kommt, lasst uns anbeten") oder Floskeln wie "Alleluja" auf immer gleiche Melodien. Der hier zitierte Psalm 95 eröffnete traditionell das nächtliche Toten-Officium, das von den Benediktinern in der geselligen Zeit zwischen 0:00 bis 2:00 Uhr begangen wurde. Die Psalmen, Lesungen und Responsorien dieses Officiums sollen die Fürsprache der Lebenden für die Toten beflügeln. Die Melodie des vorliegenden Invitatoriums lobt die Schöpfung Gottes. Sie entstammt wahrscheinlich der synagogalen Praxis, ist also wohl noch der Zeit vor dem 7. Jahrhundert zuzuordnen.
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Regem cui ómnia vivunt, veníte adorémus
Veníte, exsultémus Dómino, iubilémus Deo, salutári nostro; praeoccupémus fáciem eius in cofessióne, et in psalmis iubilémus ei.
Quóniam Deus magnus Dóminus, et Rex magnus super omnes deos, quóniam non repéllet Dóminus plebem suam, quia in manu eius sunt omnes fines terrae, et altitúdines móntium ipse cónspicit. Quóniam ipsíus est mare, et ipse fecit illud, et áridam fundavérunt manus eius ; veníte, adorémus, et procidámus ante Deum, plorémus coram Dómino, qui fecit nos, quia ipse est Dóminus Deus noster;nos autem pópulus eius, et oves páscuae eius. Hódie, sie vocem eius audiéritis, nolíte obduráre corda vestra, sicut in exacerbatióne secúndum diem tentiatónis in desérto, ubi tentavérunt me patres vestri, probavérunt et vidérunt ópera mea. Quadragínta annis próximus fui generatióni huic, et dixi: Semper hi errant corde; ipsi vero non cognovérunt vias meas, quibus iurávi in ira mea: Si introíbunt in réquiem meam. Glória Patri, et Fílio, et Spirítui Sancto, sicut erat in princípio, et nunc, et semper, et in saecula saeculórum. Amen.
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Den König allen Lebens, kommt, lasst uns anbeten.
Kommt, lasst und jubeln vor dem Herrn und zujauchzen dem Fels unseres Heils! Lasst uns mit Lob seinem Angesicht nahen, vor ihm jauchzen mit Liedern!
Denn der Herr ist ein großer Gott, ein großer König über allen Göttern. Er verlässt sein Volk nicht. In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, sein sind die Gipfel der Berge.
Sein ist das Meer, das er gemacht hat, das trockene Land, das seine Hände gebildet. Kommt, lasst und niederfallen, uns vor ihm verneigen, lasst und niederknien vor dem Herrn, unserm Schöpfer! Denn er ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde, von seiner Hand geführt. Ach, würdet ihr doch heut auf seine Stimme hören! "Verhärtet euer Herz nicht wie in Meriba, wie in der der Wüste am Tag von Massa! Dort haben eure Väter mich versucht, sie haben mich auf die Probe gestellt und hatten doch mein Tun gesehen. "Vierzig Jahre war mir dieses Geschlecht zuwider, und ich sagte: Sie sind ein Volk, dessen Herz in die Irre geht; denn meine Wege kennen sie nicht. Darum habe ich in meinem Zorn geschworen: Sie sollen nicht kommen in das Land meiner Ruhe." Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit. Amen.
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Diesen klassischen Monodien wurden mit der Zeit Alleluja-Lieder, Ordinariums-Gesänge, sogenannte Sequenzen, Tropen, Hymnen, Offizien, Cantiones usw. zugefügt, die traditionell auch unter die Überschrift "Gregorianik" fallen, historisch aber jüngeren Datums sind (vgl. MGG Bd. 05, S. 786).
Das nachfolgende Kyrie (Nr 2) entstammt einer Version des Requiems und ist klassisch gregorianisch. Es ist Grundlage zahlloser Bearbeitungen, Anfang aller Messen, die im Folgenden zitiert werden werden.
Das Kyrie enthält wiederholte Kyrie-, Christe- und wieder Kyrierufe. Diese Rufe stammen aus der Antike und gingen ursprünglich zwischen Priester und Gemeinde hin und her. Beim abschließenden Kyrie-Ruf wird die Wiederholung gegen eine aufwärts strebende Passage ersetzt. Aus diesem Kontext entstand die später für die Liedkomposition typische ABA-Form. Lieder des Mittelalters mit einem solchem Aufbau tragen teilweise die Bezeichnung "Leise" oder "lais".
Nach Gülke (1998) bestrebte die römische Reform der Kirchenmusik, die als "Gregorianik" bezeichnet wird eine "theoretisch-praktische Konsolidierung und die Reinigung von regional bedingten Abweichungen, nach außen hin die Abgrenzung gegen den
Höfische Minnegesänge
Einstimmig wie die Responsorien ist auch die höfische Liebesmusik, die uns allerdings erst aus dem 12. Jahrhundert überliefert ist. Sie wurde dargeboten von fahrenden Sängern und Spielleuten, die zwischen den Höfen der europäischen Feudalherren hin und her zogen: Äoden, Goliarden, Menestrels, Jongleure, Skops, Gleemen, Troubadore, Trouvères, Minnesänger.
Auf einer Tierhornflöte spielt Rene Clemencic zunächst (Nr 3) ein geistliches Werk, die Hymne auf den heiligen Wenzeslaus (Sváty Václace), schließlich "Mayenzeit" - ein Klassiker des deutschen Minnesangs von einem Nachahmer des Neidhard von Reuenthal (1180-1240).
Mayenzeit one neidt freuden geit wider streit,
sein Wiederkummen kann uns allen helffen.
Uff dem Plan one wan sicht man stan wolgethan
lichte präune plümlein bei den gelffen.
Durch das Gras sind sie schon uffgedrungen.
Und der wald manigfalt ungezahlt ist erschalt.
Daß er ward mit dem nie bas gesungen.
Ich son niet nach ihr sieht hätt ich Fried, des ich biet
ob mir jemand komm daran zu trosten.
Ich bin verzeiht meine Leid unvereit sind so breit
ich nehm noch wer mich davon erloste.
Liebesblicken kann ich schicken wilde
es ist mein Klag alle Tag und Gedag als ein Zag
Liebesblick lass mich bei Blickes Bilde.
Große Not mir entbot der mir droht auf den Tod;
das ist Hildebolt von Berenreute.
Irenfried und der Schmied werden Glied an eim Wied,
daß sie mit Gemache lan die Leute!
Berwin den mag niemand überhauzen.
Amelot, Berenbolt han vergolt daß man sollt
über mich gegeben hat zu Praußen.
Ich kam dar one var und gewahr zu ihr Schar;
ich sah was die Gatelinge täten.
Irenger und ihr mer gingen zwer hin und her
mit ihr Kapelklingen, sam sie maeten.
Do sprach ich: 'Nu wollt ich eines wetten,
das ihr gedroht und ihr geschnod würde blod wie ihr freud
niemand kund mit heres Kraft enfetten.'
Hildemar mit dem Haar, der kam dar.
Ich nahm wahr wie er mit der Schonen wollte schimpfen.
Hoch er sprang an ihr dank uff ein bank, die wars krank.
Das sollte sie ihm preisen für ihr glimpfen
das ihr beder Lieb sich muste schutten.
Mir was ant, do ich empfand daß ihr Gewand sich entbannt
und ihr kluges schapel must entrutten.
Ich klag euch her, diese mär. Seht ihr her, wartet wer!
Wie sollt sie zu diesem Ding gebaren?
Ihr nehmt sie gaum one Saum an eim Zaum in eim Baum.
Um den Schaden da sollt er bejaren.
Wollte er unter schönen Kinden walgen
Hin und her, als ein zwer, als auch er hät die Ger,
besser wär, er hing an einem Galgen.
Ich was vert nach gewert, dass ein Schwert ihm verehrt'
ein halbes Knie seiner zehn Genossen:
Enzeman lief ihn an; kaum entran er vondan.
Er het nimmer mehr kein Meidt gestoßen.
Würd ich noch zu Reuental gerochen,
ich hät Heil, Freuden teil, und wär geil, ob ein Seil
ihm hät alle Viere abgebrochen.
Bernart de Ventadorn (ca 1125-1195) gilt als der wichtigste der Troubadours des Burgund. Bernart war von niederer Herkunft: sein Vater war Kriegsknecht, seine Mutter Magd im Schlosse des Vizegrafen von Ventadorn. Dennoch bereiste er England, traf dort z. B. mit dem Artus-Sagen-Dichter de Troyes zusammen. Das MGG formuliert: "Bernart wurzelt zwar in den hergebrachten Sitten und Anschauungen der höfischen Gesänge des 12. Jhtds., er fügt sich der Mode und Konvention, er überwindet jedoch die engstirnige Theorie durch geist- und seelenvolle Interpretation und den Schwung dichterischer Eingebung - Das Wunder der erwachenden Natur: der knospende Wald und die grünende Flur, die blühenden Bäume und die duftenden Auen erfüllen das Herz des Sängers mit überschäumender Freude, höchstes Wonnegefühl löst ihm aber die Minne aus.
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Bernart de Ventadorn
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Zwar liegt sinnliches Begehren auch seiner - wie jeder natürlichen - Liebeslyrik zugrunde, aber nie artet dieses Begehren in zügellose Erotik aus, nie wird auch nur das Gebiet des Derbsinnlichen gestreift; das gebot schon die Rücksichtnahme auf höfische Sitte und Gesellschaft - Seine Ausführungen über das Wesen der Minne ergehen sich in allgemeinen Betrachtungen, in denen die Liebe als Quelle von Lust und guten Taten gepriesen, in denen darauf hingewiesen wird, dass Minne zur Verschwiegenheit verpflichtet, dass sie keinen Lohn verlange, aber Gegenliebe erwecke." (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1986: Bd. 01, S. 1779).
Die Melodie des "Lerchenliedes" ist nach Ansicht des MGG wohl die am weitesten verbreitete Liedmelodie des Mittelalters gewesen, sie war nachweisbar im ganzen Abendland bekannt.
Wenn ich die Lerche dabei beobachte, wie sie ihre Flügel schlägt
- mit Freude gegen die Sonnenstrahlen -
unbeirrt bis sie ohnmächtig wird und hinunterfällt
von der Süße, die sich ihres Herzens bemächtigt.
Ach, ich spüre so einen Neid jenen gegenüber, die die Liebe genießen
so dass ich mein Herz versteinern muss,
damit es sich nicht sofort vor Sehnsucht schmilzt.
Ich vermeinte soviel von der Liebe zu wissen
und ich wusste doch so wenig.
Weil ich kann nicht umhin sie zu lieben.
Sie, die mir so wenig Gutes geben kann.
Sie hat mir mein Herz genommen,
mein Selbst, sich selbst und die Welt;
und wenn sie mich verlässt, dann bleibt mir nur Sehnsucht
und ein süchtiges Herz.
Ich werde den Damen, die ich verehre,
niemals mehr trauen:
ebenso wie ich sie gerade wertschätzte
werde ich sie jetzt verdammen.
Weil mir keine einzige hilft
gegen sie, die mich zerstört.
Ich zweifle an ihnen, misstraue ihnen
denn sie sind alle gleich.
Meine Dame jedoch zeigt sich als eine Frau
und ich bewundere sie dafür.
dass sie das nicht will, was ich von ihr wünsche
und dass sie das tut, was ihr verboten ist.
Ich bin auf ihre bittere Gnade verfallen,
und bin wie eine Katze, die auf einen Baum sitzt
und ich weiß nicht warum
bis ich versucht habe, zu hoch zu klettern.
Weil bei meiner Dame weder Gebet noch Gnade hilft,
weder mein angestammtes Recht, noch meine Liebe sie befriedigen
will ich mit ihr hierüber nicht mehr sprechen.
So verlasse ich sie also.
Sie ist es, die meinen Tod bewirkt hat
und mit dem Tod antworte ich ihr - und verlasse sie.
Weil sie mich nicht zurückhält
Ich fliehe irgendwo-, weiß nicht wohin.
Tristan, du wirst nichts von mir haben,
weil ich fort gehe, ein Schuft, weiß nicht wohin.
Vom Singen nehme ich Abschied
und von Freude und Liebe und mache mich davon.
In der Minnelyrik finden wir die klassischen Themen der reinen Liebe, die regelmäßig vom geliebten Objekt unerwidert bleibt. Der Sänger reagiert auf diese Zurückweisung nicht mit Trotz (wie später Schubert) oder Verachtung (wie später Schumann), sondern mit einem überraschenden, entgegen kommenden Verständnis. Es muss gesellschaftlich offenbar der Anschein erweckt werden, dass das Begehren abgewiesen werden muss (es ist die Pflicht der "Dame"). Es scheint, dass der Mann lernen muss, die Frau - so Ventadorn - dafür zu bewundern, "dass sie das nicht will, was ich von ihr wünsche".
Dem begegnet der Mann nicht mit Liedern, die wie in der Romantik die Abweisende beschämen (wie später Schumann) oder den Schmerz der Abweisung beschreiben sollen (wie später Schubert), sondern mit einer neutralen "Contenance". Musik wird hier also Träger einer Ideologie der Sublimation - was naturgemäß letztlich nur bedingt gelingen wird. Gemäß dieser Ideologie des geradezu erwünschten Verzichtes im Text findet sich diese Position auch in der Musik: Im Vergleich zum Lied der Romantik umschreibt Jammers (1963) den Charakter der musikalischen Begleitung des Minnesangs so: "Die Musik des Minneliedes tritt nicht zum Texte hinzu, sie braucht und vermag ihn nicht zu klären und erklären, nicht zu deuten, aus- und umzudeuten; sie braucht keine Stimmungen zu schaffen, hinzuzufügen; sie braucht und soll keine
Unerwartet war es gerade die deutsche Lyrik, die die "Sinn"-Losigkeit des Minnegesanges auflöste, sich dem "Derbsinnlichen" zuwandte und die Erfüllung der Liebe im Koitus vertonte: "Tandaredei! Pling!"
So klingt es in wohl einem der schönsten "Mädchenlieder" deutscher Sprache, jenes des Walther von der Vogelweide (ca 1170 - ca 1230) - einstimmig noch, doch mit seiner, dem Gegenstand verpflichteten, klaren Melodie volksliedhaft bereits hinüber leuchtend in eine neue Zeit.
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Under der linden an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ mugt ir vinden
schône beide gebrochen bluomen unde gras.
vor dem walde in einem tal -
tandaradei!
schöne sanc die nachtigal.
Ich kam gegangen zuo der ouwe, dô was mîn friedel komen ê. da wart ich enpfangen hêre frouwe, daz ich bin sælic iemer mê. kuster mich? wol tûsenstunt! tandaradei! seht, wie rôt mir ist der munt. Dô het er gemachet also riche von bluomen eine bettestat. des wird noch gelachet innecliche, kumt iemen an daz selbe pfat. bî den rôsen er wol mac - tandaradei! merken, wâ mirz houbet lac. Daz er bî mir læge, wessez iemen, - nu enwelle got - sô schamt ich mich. wes er mit mir pflæge, niemer niemen bevinde daz wan er unt ich und ein kleinez vogellîn! tandaradei! daz mag wol getriuwe sîn.
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Unter den Linden auf der Heide,
wo unser gemeinsames Bett war,
könnt ihr es sehen:
gebrochene Blumen und gedrücktes Gras
vor dem Wald in einem Tal -
Tandaradei -
schön hat die Nachtigall gesungen.
Ich kam zu der Au da kam auch mein Liebster hin da wurde ich zur Frau gemacht dass ich für ewig selig bin. Küsste er mich? Wohl tausendmal! Tandaradei! Seht wie rot mein Mund geworden ist. Da hatte er ganz greoßzügig ein Bett aus Blumen gebaut, erst wurde (nur) gelacht, sehr verliebt... käme jemand an diesen Pfad, könnte er wohl bei den Rosen merken, Tandaradei! was wir getrieben haben. Wie er bei mir lag, wüsst es jemand, - um Gottes Willen - ich schämte mich, was er mit mir angestellt hat, niemals, niemals sag ich's, das wissen nur er und ich und ein kleines Vögelchen - Tandaradei - das wird wohl verschwiegen bleiben.
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![]() Oswald von Wolkenstein |
Immer noch ist Gesang einstimmig, wird er höchstens - nach Art der antiken Sangeskunst - von verschiedenen Instrumenten frei umspielt ("Heterophonie") oder - im Volksgesang aufgrund der Unterschiede der Stimmlagen gemeinsam Singender - seine Melodie in Oktavparallelbewegungen gesungen.
Eine Generation später dichtete und komponierte aber bereits Oswald von Wolkenstein (1377-1445) - eigenwilliger Adelsherr im Gefolge König Sigismunds (1368-1437) aus Südtirol - mehrstimmig. Und was die Inhalte der ebenfalls selbst verfassten Texte angeht gab der Meister inhaltlich derbsinnlich noch eins drauf - wohl weil er "im Gegensatz zu den meisten damaligen Dichtersängern…nicht zum Broterwerb (schrieb). Er brauchte daher auch keine Rücksicht auf die Wünsche eines Auftraggebers oder auf die Empfindlichkeiten eines zahlenden Publikums nehmen, sondern er konnte seine künstlerische Begabung ungehemmt entfalten" (Heimrath & Korth , 1979, S. 6).
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Seine Lieder beschreiben Autobiografisches wie Reisen in den Orient ("Es fugt sich"), deftige erotische Begebenheiten ("Die mynne füget nyemand", "Fröleichen so will wir") und Szenen des mittelalterlichen Alltags ("Zergangen ist mein Herze weh"), die beispielsweise eindringlich die Freude über die Schneeschmelze und den einkehrenden Frühling nach einer langen Winterzeit auf der Burg beschreiben. Von Wolkenstein sind sind 126 Gedichte übermittelt, 105 Kompositionen, darunter 40 mehrstimmige. 124 der Gedichte sind zum Singen bestimmte Lieder. Waren Walthers Gesänge einstimmig und solistisch, so hat Oswald das mehrstimmige Lied in die deutsche Musik eingeführt - es finden sich in seinen Melodien arabische, berberische, böhmische, irisch-schottische und griechische Stilelemente.
Ars Nova
Die folgenden Werke stammen aus der Phase der sogenannten Ars nova. Der Begriff ist überliefert als Titel einer Schrift von Philippe de Vitry (1291-1361), die wahrscheinlich um 1320 in Paris entstand. Der Komponist, Gelehrter und späterer Bischof von Meaux publizierte eine bahnbrechende Schrift, in der unter anderem ein neues Notationssystem aber auch die Gleichberechtigung von dreiteiliger (perfekter) und zweiteiliger (imperfekter) Mensur vorgeschlagen wurde, mit dem sich erstmals alle denkbaren rhythmischen und metrischen Einheiten darstellen ließen.
Zwischenzeitliche Mensurwechsel wurden in roter Tinte in das Manuskript notiert. Die neue Mensuralschrift erlaubte erstmals die Anwendung aller Notenwerte (maxima, longa, brevis, semibrevis und minima) in allen Stimmen und allen Teilen der Komposition.
Guillaume de Machault
Holger sagt: der größte Dichter und Komponist dieser Zeit ist Guillaume de Machaut. Er ist zwischen 1300 und 1305 in der Champagne geboren und im April 1377 als Canonicus an Notre Dame in Reims verstorben. Er wird beschrieben als "Dichter und Musiker von fast universalem Wissen, … großer Reisender und Liebhaber schöner Damen, der sich als einer der Letzten aus der Zeit der Trouvères offenbart. Als einer der frühesten Komponisten einer polyphonen Messe und als Meister großer geistlicher Formen (Motetten mit Introduktion), als Wegbereiter schließlich des französischen Chanson hat er lange."
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Seine Messe de Nostre Dame ist die erste erhaltene vierstimmige Messe. Im Kyrie verwundert vor allem das rhythmische Gegeneinander der Stimmen, welches als hoquetus bezeichnet wird. Dieser Vortrag einer gleichsam zerschnittenen Melodie (truncatio vocis) rechtfertigte das frz. Wort hoquet = "Schluckauf".
Der Aufbau der Messeteile entspricht dem gregorianischen Vorbild. Doch ist das Wiederholen des Kyrie nun mehrstimmig, der einstimmige "Vorgesang", welcher ehemals Privileg des Priesters war, wird zum Zwischenspiel, Füllsel. Dies hat einerseits den Effekt, dass das Gottesdienstliche gegenmüber dem Musikalischen in den Hintergrund rückt, andererseits bedeutet dieses Vorgehen einen gänzlichen Ausschluss der Gemeinde aus dem kirchlichen Ritus: naturgemäß ist der Chorsatz eines Machaults so kompliziert, dass niemand mehr "spontan" mitsingen kann.
Aus dem Kyrie I der Messe de Nostre Dame, transkribiert für 4-händiges Klavier von György Kurtág
Aus der Messe zitieren wir auch das Agnus Dei, das in den folgenden Bänden des HGM - wieder unserem Prinzip untreu werdend - in den verschiedensten Epochen bis hin zu den Passionskompositionen der lutherischen Komponisten regelmäßig wieder erklingen wird, um den Umgang mit dem immer gleichen Text bzw Thema - der Opferung Christi zu demonstrieren. Das Agnus Dei begleitete in der römischen Messe das Brechen des Brotes. Als dieses - im Zuge der zunehmenden Differenzierung zwischen Gemeinde und Priester durch den Ausschluss der Gläubigen von bestimmten Ritualen - außer Gebrauch kam ertönte das Agnus Dei zum "Friedensgruß" (Gülke, 1998, S. 68). "Textlich tritt aus dem aus dem Joh 1,29 bzw. 36 stammenden
Das Agnus ist ein getragenes Stück und wird auch nicht von Priestereinwürfen gestört - es wird so zu einem der ersten durchkomponierten Stück Kirchenmusik. Sucht man die bekannten Melodien, zu denen der Text zu singen war, findet man diese im Tenor des Chorsatzes. Über diesem entfalten sich die melismatischen und reich verzierten Oberstimmen. Dies führte naturgemäß zur "Verdeckung" der bekannten Gesänge, die von höheren und damit der Wahrnehmung eher zugänglichen Verzierungen überlagert wurden.
Machaut selbst hat mit seinem (melismatischen)
Hoquetus David
die Krönung der ganzen Gattung der "Schluckauf"-Musik geliefert (MGG). Der gregorianische Text wird erst achtmal, dann in anderer Rhythmisierung viermal wiederholt. Darüber hoquetieren die Oberstimmen frei.
Und genau dieses Phänomen der Verdeckung der alt hergebrachten Melodien durch rhythmisch exaltierte, "eilende", "trunkene", "laszive" Über-Stimmen führte zum Verbot seiner Messe durch Papst Johannes XXII. Er kritisierte die Ars nova in der Bulle Docta sanctorum aus dem Jahre 1325: Der Papst verdammte eine Musik, von der er behauptete, dass der Text lediglich als Vorwand für die Musik diente, und bei der die Melodie durch die Hoquetierung entstellt würde.
"Etliche Anhänger einer jungen Schule wollen, indem sie eifrig die Tempora mensurieren und neue Noten einführen, lieber ihre eigenen (Gesänge) produzieren als die alten vortragen; in Semibreven und Minimen gesungen, durch kleine Notenwerte wird es verunstaltet. Sie eilen, und sie ruhen nicht; sie machen die Ohren trunken, statt sie zu heilen; mit Körperverrenkungen ahmen sie nach, was sie hervorbringen - wodurch die zu suchende Andacht verächtlich und die zu meidende Laszivität offenbar gemacht wird..."
Was seinen Anstoß erregte, war die nun gefundene Freiheit der Melodiebildung, der enorme Reichtum der Harmonie und die hochgesteigerte sinnliche Wirkung der Musik der Ars Nova. Dass die überlieferten Texte der gregorianischen Gesänge genutzt wurden um betrunken-laszive Schluckauf-Gesänge zu intonieren, war dem Vertreter Gottes auf Erden ein Dorn im Ohr. So bestimmter er, dass die Kirchenmusik von nun an schlicht zu sein habe und die Gläubigen nicht von der Heilsbotschaft oder den Messinhalten ablenken dürfe. Die Kirchenmusik sollte sich fortan wieder streng an den überlieferten liturgischen-einstimmigen Formen orientieren. Allenfalls noch an sehr hohen Festtagen durften Quinte, Quarte und Oktave als harmonische Intervalle zur Verzierung der Monodie eingesetzt werden.
Dies hatte letztlich zur Konsequenz, dass seitdem fast während des gesamten 14. Jahrhunderts keine geistliche Musik mehr komponiert wurde. Stattdessen wird die Musik der Ars Nova eine in hohem Maße öffentliche, ja sogar politische Kunst, wenn sie nicht Liebeslyrik oder den höfischen Lebensstil reflektiert. Diese öffentliche Kunst hat die >ästhetische Insel< der Ars Antiqua verlassen und nimmt Stellung zu Streitfragen, ist Vehikel von Satire oder Kritik an berühmten zeitgenössischen Persönlichkeiten (Päpste, Könige etc.), kommentiert einen geplanten Kreuzzug oder nimmt später Partei für oder gegen einen der Schisma-Päpste.
Vom Papst geschasst widmet sich Machaut der Liebeslyrik mit volksliedhaften Melodien ebenso wie extrem formal konstruierten Gesängen wie "ma fine est min commencement" - mein Ende ist mein Anfang. Hier ließ der Meister sich durch den Text zu akrobatischem Tonsatz verleiten: Wir erleben einen Krebs-Kanon, "bei dem die Stimmen der Musik nach der Hälfte rückwärts singen".
Ma fin est mon commencement
Et mon commencement ma fin
Et teneure vraiement.
Ma fin est mon commencement
Mes tiers chans trois fois seulement
Se retrograde et einsi fin.
Mein Ende ist mein Anfang
und mein Anfang mein Ende
und ein richtiger Tenor.
Mein Ende ist mein Anfang.
Mein dritter Gesang schreitet nur dreimal
rückwärts und endet so.
Das bekannteste vierstimmige Liebeslied Machaults ist "De toutes flours", das hier zunächst in einer exakt nach dem überlieferten Notentext gesungenen Form dargeboten wird, dann in einer instrumental-improvisatorischen Version, die der realen Aufführungspraxis der Zeit womöglich näher kommt als die sklavisch am "Urtext" hängende a-capella-Darbietung.
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De toutes flours n'avoit et de tous fruis
En mon vergier fors une seule rose.
Gastes estoit li seurplus et destruis
Par Fortune qui durement s'oppose
Contre ceste doulce flour
Pour amatir sa coulour et s'odour.
Mais se cueillir la voy ou trebuchier,
Autre apres li jamais avoir ne quier.
Mais vraiement ymaginer ne puis Que la vertus ou ma rose est enclose Veigne par toy et par tes faus conduis, Eins est drois dons natureus ; si suppose Que tu n'auras ja vigour D'amanrir son pris et sa valour. Lay la moy donc, qu'ailleurs en mon vergier Autre apres li jamais avoir ne quier. He ! Fortune qui es gouffres et puis Pour engloutir tout homme qui croire ose Ta fasse loy, ou riens de biens ne truis Ne de seur, trop est decevans chose ; Ton ris, ta joie, t'onnour Ne sont que plour, tristesse et deshonnour. Se ty faus tor font ma rose sechier, Autre apres li jamais avoir ne quier. |
Von allen Blumen und Früchten gab es keine in meinem Obstgarten außer einer Rose, der Rest war brach und zerstört durch Fortuna, die sich mit Härte gegen diese süße Blume wendet, um ihre Farbe und ihren Duft zu mindern, doch wenn ich sie gepflückt oder geknickt finde, will ich nach ihr nie mehr eine andere. Aber ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass die Tugend, von der meine Rose umgeben ist, von dir und deinen falschen Taten herrührt, vielmehr ist sie eine natürliche Gabe; ich glaube, dass du niemals die Kraft haben wirst, ihren Preis und Wert zu vermindern. Lass sie mir also, denn anderswo in meinem Obstgarten will ich nach ihr nie mehr eine andere. He Fortuna! Die du ein Abgrund, ein Loch bist um jeden zu verschlingen, der dir zu glauben wagt, dein falsches Gesetz, in dem ich nichts Gutes finde, nichts Sicheres, ist eine zu trügerische Sache, dein Lachen, deine Freude, deine Ehre sind nur Tränen, Traurigkeit und Schande. Wenn dein falsches Spiel meine Rose verdorren lässt, so will ich nach ihr nie mehr eine andere.
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Trecento
Aus der französischen Schule entwickelte sich die sogenannte Trecentomusik in Italien. Der Italiener Anthonella de Caserta bedient sich einer rhythmisch komplexeren Polyphonie, in der die Stimmen noch unabhängiger voneinander werden. Beauté parfaite ist eine mehrstimmige Bearbeitung einer Ballade Machaults.
Hauptvertreter des Trecento war in Florenz der Malerssohn Francesco Landini, ein Dichtermusiker und vielseitiger, früh erblindeter Instrumental-Virtuose (Geburtsjahr unbekannt, † 1397). Mit 154 erhaltenen Werken übertrifft er weitaus alle Mitbewerber, macht aber auch den Kurswechsel besonders klar. Virtuosität wird hintan gestellt, lyrische zweistimmige Werke, zum Teil von ätherischer Schönheit, treten an dessen Stelle.
Madrigale und Caccia - wie "Ecco la primavera" sind nur noch durch 13 Nummern vertreten.
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Ecco la primavera
Che'l cor fa rallegrare
Temp' è dannamorare
E star con lieta cera
No' vegiam l'arie e'l tempo Che pur chiam' allegrezza. In questo vago tempo Ogni cosa ha vaghezza. L'erbe con gran freschezza E fior' copron i prati. E gli albergi adornati Sono in simil manera. |
Der Frühling ist da
und lässt das Herz sich freuen;
dies ist die Zeit, sich zu verlieben
und glücklich zu werden.
Luft und Wetter regen und zu Fröhlichkeit an. In dieser schönen Zeit hat alles Liebreiz. Frisch ist das Grün des Grases, Blumen bedecken die Wiese, und die Bäume sind auf gleiche Weise geschmückt. David Munrow (Dir.) ? The Early Music Consort of London [1969]
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Ihnen stehen 141 Ballaten gegenüber, von denen die 92 zweistimmige vor allem die Tradition des Sologesangs mit 2 Männerstimmen fortsetzen. Einige Gipfelwerke zeigen besondere Klangschönheit, etwa Nr. 120 Gentil aspetto mit einer begleiteten Solomelodie, oder Nr. 123 Gram piant'agl'ochi mit einem typisch italienischen Duettgesang der Außenstimme und instrumentiertem Kontratenor. Verglichen mit Machaut, beschränkt sich Landini wie fast alle Trecentisten auf gesellige Liedkunst. Überraschend ist nach dem Aufstieg der Trecentomusik ihr schnelles Ende: Etwa mit Landinis Tode 1397 setzt eine italienische Spätzeit ein, in deren Verlauf die Eigentradition erlosch. |
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Francesco Landini: Gram pant' agli occhi (Codex Squarcialupi)
Gram piant' agli occhi, greve dogli al core Abbonda senpre l'anima, si more. Per quest'amar' ed aspra dipartita; Chiamo la mort' e non mi vol udire. Chontra mia voglia dura questa vita. Che Mille morti mi convien sentire. Ma bench'i' viva, ma' non vo' seguire Se non vo', chiara stella et dolce amore.
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Soviel Tränen in meinen Augen und Schmerz in meinem Herz!
Daran erstickt und stirbt meine Seele.
Dieser bitteren, schmerzlichen Liebe zu entfliehen, rufe ich den Tod herbei, doch er hört mich nicht. Gegen meinen Willen ertrage ich dieses Leben, das mich tausend Tode erleiden lässt. Obwohl ich aber weiter lebe, will ich nur dir folgen, süße Liebe, leuchtender Stern. Alla Francesca [1992]
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Gülke (1998) beschreibt dieses Werk wie folgt:
"Landini wird nicht, wie manche seiner Vorgänger, hin- und hergerissen zwischen den Erfordernissen der Deklamation und der oft virtuosen, kleingliedrigen Koloratur. Der Gegensatz beider geht auf in einer weiträumig konzipierten, ausdruckstarken "cantabilitä", welche Profil und harmonische Kontur durch das Podest erhält, das ihr Landini in den zumeist zwei Unterstimmen baut. Ähnlich wie bei Machaut "reden" die Instrumente mit; anders als bei diesem, der stärker der Tradition des die Parte nacheinander addierenden Komponierens verhaftet ist, sind beide Unterstimmen aus einer umgreifenden Vorstellung des harmonischen Verlaufs konzipiert, verbinden sich darum oft homogener und erscheinen der Oberstimme sehr unmittelbar zugeordnet. Der Beginn der Ballata "Gram piant' agli ochi" spiegelt das Zusammenspiel dieser Gestaltungsmittel eindrucksvoll wider. In das Phänomen des Zusammenklangs scheint Landini sich gerade versenken zu wollen; die Beweglichkeit des Kontratenors entsteht wesentlich aus dem Bedürfnis nach vielfältiger Füllung der Akkorde, wie gleich zu Beginn ersichtlich, wenn er aus dem Oktavklang ausschert, im zweiten Takt die Terz in den C-Klang hineinstellt, im vierten in den F-Klang etc. Dreiklängige Führungen verraten, wie stark Landini sich der Gravitationswirkungen einer Grundharmonie versichert; dies verleiht seiner Melodie ihre eindringliche "Schwere", entfaltet sie sich doch in einer deutlich fühlbaren Polarität von Woher und Wohin. Der Anstieg zu Beginn wird zu einem melodischen und harmonischen Ereignis von großem Gewicht, weil ihn der Tenor mit typischen Grundschritten stützt; wenn Landini im vierten Takt, um dem Zentralwort "piant" besonderen Nachdruck zu verleihen, statt des erwarteten C-Klangs überraschend einen F-Klang präsentiert, so spürt man gerade in der - durch ungewöhnliche Höhenlage betonten - Abweichung die gestaltende Sensibilität am Werke, die den C-Klang vermeidet, in dem die musikalische Zeile zu früh ans Ziel gelänge, mithin das Wort "piant" auf einer durchschnittlichen
Kadenz säße - sofern es dann nicht überhaupt früher erscheinen müsste, da normalerweise musikalisches und textliches Zeilenende (= "ochi") zusammenfallen. Die zunächst blockiert gewesene Anziehungskraft des C-Klangs wirkt nun doppelt stark und verleiht der Wendung "piant'agli ochi" , die ihr nachgibt, besonderes Gewicht, welches außerdem der melodische Abschwung, die Terzenführung und der Gleichschritt von Oberstimme und Tenor bei "ochi" vergrößern. Bei einer Satzweise, die jeder Stimme eine besondere Funktion und also ein eigenes Gepräge zuspricht, gewinnen solche Stellen gemeinsamer Deklamation besondere Leuchtkraft, da hier die Stimmen halbwegs aus ihrer Spezifik entlassen und, akkordisch gebündelt, ganz der deklamativen Darstellung des Textes unterstellt werden. Noch deutlicher tut Landini das bei "Abbonda sempre 1'anima" , dem Beginn der zweiten Zeile, als einer rhetorischen Verdichtung, von der aus die Stimmen anschließend auseinanderlaufen - die obere mehrmals zum Hochton c strebend und eindringlich den Quartfall (c-g, g-d) wiederholend. Außerdem disponiert Landini auch die großen melodischen Verläufe sehr sorgsam: Dem Auf-Ab der Oberstimme in den ersten fünf Takten entspricht das Auf-Ab des Kontratenors in den folgenden bis zum Zeilenende; in verkürzter Form vollziehen es im siebenten bis neunten Takt auch Oberstimme und Tenor. Dem gewichtigen Anstieg des Beginns entspricht am Ende des Abschnittes, der "ripresa", ein durch eine ganze Oktave gehender Abgang des Tenors. Mit solchen Mitteln erreicht Landini eine Vertiefung und ein deklamatives Pathos, welche dem Text sehr angemessen sind; dieser lautet in deutscher Übersetzung:
"Tränen fließen aus meinen Augen, heftiger Schmerz bewegt mein Herz; / meine Seele ist überwältigt und ich sterbe / an dieser harten und grausamen Trennung. / Ich rufe den Tod, doch er will mich nicht hören; / gegen meinen Willen geht das Leben weiter, / das mich tausendmal den Tod spüren läßt. / Jedoch obwohl ich lebe, will ich nicht, / ohne es zu wollen, einem hellen Stern und süßer Liebe folgen."
Zu dieser musikalischen Vertiefung trägt auch die formale Verdichtung der Ballata bei, die strukturell der Kanzonenform von Jacopone da Todis Lauda ähnelt und die Abschnittfolge der französischen Ballade umkehrt. Der Refrain, der bei dieser das Stück schließt, steht, bei der Ballata "ripresa" genannt, am Beginn und enthält eine bis fünf Zeilen; die anschließende "stanza" setzt sich aus zwei "piedi" (= Stollen) und einer "volta" (= Abgesang) zusammen; metrisch und musikalisch entspricht die Volta der Ripresa und bereitet also deren Wiedereintritt vor. Wie bei Machaut entspricht dieser äußeren Gliederung eine innere, das heißt, in der Ripresa wird - zu möglichst prägnanter Musik - textlich ein zentraler Gedanke formuliert, den die Strophen auslegen bzw. auf den sie zurückkommen. Diese sehr differenzierte und zugleich variierbare Form verdrängte die früher erläuterten sehr bald, wobei die dreistimmige Prägung Landinis ein Endstadium darstellte vor einem früheren, in dem die Ballata für die Besetzung des Madrigals, also für zwei Männerstimmen, komponiert wurde. Von dieser scheint in die spätere die vokale Ausführung des Tenors mitgenommen worden zu sein. Als begleitende Instrumente kamen vornehmlich Fiedel und Laute, auch Harfe in Frage, Instrumente also, die dem "leisen Singen" entsprachen, welches in den zugehörigen Dichtungen mehrmals angesprochen und sogar eingehend geschildert wird" (S. 275 ff).
Francesco Landini: I'priego amor (Ich bete Amor).
Alla Francesca (Blockflöte, Harfe, Fiedel) [1992]
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